Kaleidoskop


Auswärts zuhause

Leben in Jugendwohnheimen

Eine Ausbildung weit weg von daheim? Für viele Azubis ist das heute Realität – weil sie gerne mal herumkommen wollen oder weil es den Wunsch-Ausbildungsplatz nicht vor Ort gibt. Die passende Bleibe bieten oft die über 500 Jugendwohnheime in Deutschland: Ihre mehr als 60000 Ein- und Zweibettzimmer werden unter dem Motto „auswärts zuhause“ pro Jahr von über 200.000 jungen Menschen von 14 bis 27 genutzt.

Finanzielle Hilfe möglich
„Rein rechtlich ist Jugendwohnen ein Angebot der Jugendhilfe“, erläutert Claudia Herrmann-Bach, Sozialpädagogin im Kolpinghaus International in Köln. Je nach den Kosten sowie dem eigenen Einkommen und dem der Eltern haben die Azubis Anspruch auf Ausbildungsbeihilfe oder BAföG, um ihr Zimmer bezahlen zu können. Einige Jugendwohnheime sind zudem auf spezielle Bedürfnisse eingerichtet und bieten zum Beispiel Wohnplätze für Behinderte.

Regeln einhalten
Die Wohnheimordnung lässt viele Möglichkeiten: Es gibt gemeinsame Veranstaltungen, und jeder Bewohner ab 18 kann abends ausgehen, wohin und so lange er will. Besuch ist natürlich auch erlaubt und darf in manchen Heimen sogar über Nacht bleiben. Wer sich allerdings nicht an die Regeln hält, kassiert eine Verwarnung oder gar den Rausschmiss: „Gewalt, Drogen oder extreme politische Gesinnungen gehen gar nicht“, zählt Claudia Herrmann-Bach auf. Solche Fälle sind allerdings eher selten.

Pädagogische Begleitung
Das liegt auch an der pädagogischen Begleitung, einem besonderen Merkmal der Jugendwohnheime. „Oft dreht es sich um ganz normale Alltagsthemen: ‚Wie wasche ich Buntwäsche?’ oder ‚Ich kann nur Pizza wärmen’“, so Claudia Herrmann-Bach. „Wir helfen aber auch bei Zoff im Ausbildungsbetrieb, Schwierigkeiten mit der weiten Entfernung von zu Hause oder dem Papierkram wie dem Antrag auf Ausbildungsbeihilfe oder BAföG.“

Weiterbildung
Auch Weiterbildung wird in den Jugendwohnheimen groß geschrieben. So kann man im Kölner Kolpinghaus zum Beispiel lernen, wie man im Alltag seine Finanzen im Griff behält oder welche Rechte und Pflichten man als Erwachsener hat. Begleitung und Weiterbildung wirken sich auch auf die Abbrecherquote sehr positiv aus, die mit unter drei Prozent extrem niedrig ist.

Sport und Ernährung
Andere Jugendwohnheime setzen Schwerpunkte, so das Jugenddorf der E.ON Mitte AG in Baunatal bei Kassel, berichtet dessen Leiter Norbert Künzel: „Wir konzentrieren uns auf die Bereiche ‚Sport’ und ‚Ernährung’. Bei uns gibt es Kanufahren, Selbstverteidigungskurse, Fußball und mehr. Bei der Ernährung verzichten wir fast vollständig auf Fertigprodukte und bieten unseren Bewohnern ein gesundes Frühstück und Abendessen im Betriebsrestaurant.“

Begehrte Plätze
Wie man an einen Wohnheimplatz kommt, hängt vom Betreiber ab. „Jeder unserer Azubis kann in unser Jugenddorf ziehen, auch wenn er ganz in der Nähe wohnt. Das Ganze ist natürlich freiwillig und keine Pflicht“, sagt Peter Claus, Ausbildungsleiter bei E.ON Mitte. Das Jugenddorf wird von Norbert Künzel und seinen Mitarbeitern vom CJD im Auftrag von E.ON Mitte geführt. Die angehenden Azubis können vorab mit ihren Eltern die neue Bleibe besichtigen. Das Angebot ist offenbar überzeugend: Über 80 Prozent der rund 80 Plätze werden von den Azubis der E.ON Mitte belegt – für kaum schlagbare 183 Euro monatlich inklusive Frühstück und Abendessen! Die restlichen Plätze gehen an Verbund-Azubis oder Azubis anderer Unternehmen.

Früh bewerben
Beim Kolpinghaus in Köln ist sogar eine „Probeübernachtung“ möglich. Die insgesamt 170 Plätze werden direkt vom Kolpinghaus vergeben, wobei die Bewohner mindestens 18 sein müssen und nicht in Köln wohnen dürfen. Interessenten sollten sich vier bis sechs Monate vor ihrem gewünschten Einzugstermin bewerben. In der Bewerbung wird auch nach Hobbys und Vorlieben gefragt, die Religionszugehörigkeit spielt bei der Verteilung der Plätze keine Rolle. 95 Prozent der Bewohner bleiben dann über die gesamte Ausbildung von drei Jahren dort, zwei Drittel von ihnen wohnen mehr als drei Fahrstunden von zu Hause weg.

Gemeinsam leben und lernen
In dieser Situation ist es besonders wichtig, dass niemand allein bleibt. „Bei uns ergeben sich Kontakte unter Gleichaltrigen, die alle in derselben Situation sind. So entstehen Freundschaften“, beobachtet Claudia Herrmann-Bach. „Ganz wichtig ist auch die Möglichkeit, gemeinsam zu lernen. Bei Bedarf bieten wir auch Nachhilfe in Deutsch, Mathe und andern Fächern“, ergänzt Norbert Künzel.

Selbstständig werden
Diese Vorteile sehen auch die Bewohner. Patrick Wittkopf (21), angehender Kaufmann für Versicherungen und Finanzen, ist aus dem ländlichen Hunsrück ins Kolpinghaus Köln gezogen: „In meiner Heimat gab es keine berufliche Perspektive für mich. Hier habe ich schnell Leute kennen gelernt, lebe günstig und habe gesehen, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehmen kann.“ Auch Annett Krebs, 22-jährige Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste aus Magdeburg, stimmt zu: „Auch für mich ist es die erste eigene Wohnung, und ich wollte nicht allein sein. Hier gibt es eine Patenschaft für Neulinge und Kennenlernangebote wie einen Segeltörn in Holland. Wir haben auch andere Kolpinghäuser in Salzburg und New York besucht. Zwar werden Küchen und WCs gereinigt, aber ich bin selbst dafür verantwortlich, dass mein Zimmer sauber ist.“ Wenn sie bald ihre Ausbildung beendet und ausziehen muss, nimmt sie wichtige Erfahrungen mit: „Ich bin selbstständiger geworden. Jetzt traue ich mir auch zu, allein zu wohnen.“

Foto, oben: Jugendwohnheim Kolpinghaus International Köln
Foto, Mitte und unten: Martin Kinkel

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